Das Schelling-Projekt by Sloterdijk Peter
Autor:Sloterdijk, Peter [Peter, Sloterdijk]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
veröffentlicht: 2016-08-17T22:00:00+00:00
Minima Schellingiana
(Zusatz der Schriftführerin:
»Die Gespräche hatten um 17 Uhr c. t. begonnen. Ihr Ausklang kündigte sich gegen 20 Uhr an, als die Teilnehmer der Runde zu anekdotischen Hinweisen auf Kuriosa und Trivia aus Schellings erster Münchener Periode übergingen.«)
In bezug auf Schellings mittlere Schaffensperiode sei zu bemerken, daß der Philosoph, damals 34jährig, nach dem plötzlichen Tod seiner ersten Frau, Caroline Michaelis-Böhmer-Schlegel (die 12 Jahre älter gewesen war als er) im Jahr 1809, zeitlebens in einem hypochondrisch verschatteten Zustand verharrte. An ihm trat die seit Aristoteles bekannte Allianz von Genie und Schwermut (Problemata Physica XXX, 1) in überdeutlicher Ausprägung hervor. Zeitweilig aufgehellt wurde seine Melancholie durch die Gründung einer Familie, aus der zwischen 1813 und 1824 sechs Sprößlinge hervorgingen. Es kamen herausragende berufliche und gesellschaftliche Erfolge hinzu: Schelling wurde im Jahr 1812 durch den König von Bayern, Maximilian I., in den Adelsstand erhoben. Aufgrund seiner Mitgliedschaft an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften genoß er starke Privilegien, unter denen die Befreiung von Lehrverpflichtungen ins Gewicht fiel.
Was ihn nach der Katastrophe am Leben hielt, war eine rastlose, obschon ergebnisscheue Aktivität, die man in heutigen Begriffen umstandslos als neurotisches Ausweichen in die Arbeit diagnostizieren würde. Der Zwang zum Leben im Modus Flucht nach vorn war ihm selbst klar bewußt: »Dem Tätigen hilft Gott und sieht ihm vieles nach. Es ist unglaublich, wie viel schon in dem Tätigsein an und für sich liegt.«
Frau zur Lippe weist darauf hin, Schelling habe sich von jungen Jahren an als Arzt verstanden, ob als Hausarzt für einzelne oder als Weltarzt für die entfremdete Gesellschaft. Sein Organismus-Gedanke habe die romantische Medizin befeuert. Deren Impulse erwiesen sich als bis heute unerledigt. Sie wirken nach in den komplementären Medizinen, die sich in unseren Tagen erneut Achtung verschaffen. Therapeutische Erfolge in eigener Sache waren dem jungen Philosophen nicht gegönnt, im übrigen auch nicht als Heiler in fremder Sache: Nach dem Tod einer Patientin, an der er sich als Naturphilosoph dilettierend versucht hatte, zog er den Spott der Presse auf sich: Man werde bei ihm idealisch behandelt und sterbe reell. Die Angehörigen der romantischen Generation sahen in ihm hingegen einen begnadeten Generalisten, der die organische Sphäre in permanenter Trächtigkeit und Gärung begriff. Der Weg zum Geist sei durch ein erhabenes Nervöswerden der Materie eröffnet worden. Die Abenteuer der Irritabilität erwiesen sich als unbeendbar, und die Brände, die durch den Blitzeinschlag des Geistes in die Materie entzündet wurden, loderten für alle Zeit weiter.
Schellings Fähigkeit, sich über den Tod Carolines zu trösten, war zu seinem Vorteil gut entwickelt. Nach einer Phase exzessiver Trauer, während welcher er das Buch »Clara« verfaßte, eine Art von offenem Brief aus dem Jenseits, nahm er bald eine erotisch animierte Korrespondenz mit einer anmutigen jungen Dame auf, Pauline Gotter, Sprößling einer renommierten thüringischen Familie, die intuitiv verstanden zu haben schien, wie leicht Trost und Verführung ineinander übergehen.
Die Kalender Schellings aus jener Zeit vermerken einen erhöhten Konsum an Alkoholica; der Philosoph notiert die Preise für den baierischen Eimer Bier sowie die reichlich gelieferten Bouteillen und Wein-Krüge; er hält auch die Ausgaben für das Holz zum Beheizen des Arbeitszimmers fest.
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